Ein elastisches Versprechen

In Fitnessstudios wird hart an den Faszien gearbeitet, denn das soll geschmeidig, schmerzfrei und leistungsfähig machen. Taugt das bejubelte Training des Bindegewebes als Wundermittel?

von Jens Lubbadeh

Wenn du einen Punkt hast, wo es unangenehm wird, dann bleib an dem Punkt und roll zentimeterweise vor und zurück." Gabi, pinkes Oberteil, schwarze Stretchleggings, intaktes Bindegewebe, scheint über dem Boden zu schweben. Ihre aufgestützten Unterarme und eine Schaumstoffrolle unter den Oberschenkeln halten ihren Körper in der Horizontalen. Langsam schiebt Gabi sich vor und zurück. Dann dreht sie sich auf die Seite und rollt auf der Taille über die Matte.

"Das ist eine Faszie, die wir sehr, sehr viel gebrauchen", sagt Gabi, "und die meistens verklebt ist." Es tut schon weh, ihr nur beim Entkleben auf dem Video zuzuschauen. Aber Gabi lächelt."Wenn es schmerzt, dann ist das ganz okay. Es soll ein Wohlschmerz sein." Dass sie sich noch in ihrer Wohlfühlzone befindet, daran lässt ihr Lächeln keinen Zweifel. "Spüre, wie die Faszie wie eine Pizza ausrollt", sagt Gabi. "Wenn du drüberrollst, presst du die Fasern aus. Wenn du wieder weggehst, kann die Flüssigkeit wieder einströmen."

Gabis Video ist eines von Tausenden, die man auf YouTube findet, wenn man nach "Faszientraining" sucht. Das also ist der neue Fitness-Hype? Menschen, die über Schaumstoff-Nudelhölzer rollen und abgestandenes Gewebe auspressen? Zusätzlich wird gedehnt, gehüpft und gefedert. Das soll entspannen, die Muskeln geschmeidig machen, Cellulitedellen glätten und überhaupt jünger, gesünder und leistungsfähiger machen. Solche Versprechen der Anbieter haben sich schon weit verbreitet: Wer heute ein Fitnessstudio oder eine Physiotherapie-Praxis betritt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgefordert, an seinen Faszien zu arbeiten. Ob Faszien-Yoga, Faszien-Pilates, Faszien-Aerobic oder Faszien-Tanz - die Fitnessstudios dieser Republik sind "faszieniert" von den neuen Trainingsformen. Und bedienen sich der passenden Wortspiele ebenso begeistert wie Frauen- und Gesundheitsmagazine.

Ein gesundes Fasziengewebe sei "biegsam wie ein Bambus, reißfest wie ein Zugseil" und ermögliche "federnde Bewegungen wie bei Gazellen", verspricht das Onlineportal Fascial Fitness. Prominente wie der Fußballer Bastian Schweinsteiger und die Schauspielerin Gwyneth Paltrow hätten längst das Faszientraining für sich entdeckt, verkünden Anbieter werbewirksam. Allein im Jahr 2015 sind in Deutschland um die 30 Bücher zum Thema Faszien erschienen, bis April 2016 sind zehn weitere angekündigt. Die Methoden, an den Faszien zu arbeiten, werden immer differenzierter: Der Ratgeber "Richtig essen für die Faszien" verspricht, nicht nur mit Training, sondern auch mit der richtigen Ernährung könne man das "Fasziennetz optimal in Form halten". Auch DVDs und Schaumstoffrollen verkaufen sich derzeit blendend, solange nur das Zauberwort "Faszien" draufsteht.

Dabei sind Faszien nichts anderes als das, was man gemeinhin unter dem weichen Bindegewebe versteht. Faszien sind dieses Versagergewebe, das meistens nur dann in unser Bewusstsein gelangt, wenn es nicht mehr stützt, was eigentlich zu stützen ist. Das, woran manche im Frühsommer mit Angst in den Augen denken. Auch Hobbyköche sind von Faszien genervt: Sie kennen sie als das weiße Zeug um den Braten, das erst mühselig entfernt werden will, bevor man das Fleisch endlich in den Ofen schieben kann. Erst unter seinem neuen Etikett konnte dieses wurstpellenartige Problemgewebe sein Image wandeln. Wie der Darm, der verpönt und tabuisiert war, ehe man seine Bedeutung für die Gesundheit und sogar die Psyche entdeckte. Nun ist die Zeit des Bindegewebes angebrochen. Auch Robert Schleip ist mit seinem Buch erfolgreich: Faszien-Fitnesss: Vital, elastisch, dynamisch in Alltag und Sport. 2014 hat er es gemeinsam mit der Journalistin Johanna Bayer veröffentlicht. Robert Schleip nimmt eine merkwürdige Sonderrolle im Hype um die Faszien ein.

Einerseits gilt der Humanbiologe und Leiter der Fascia-Research-Gruppe an der Universität Ulm als Deutschlands führender Faszienforscher. Andererseits vermarktet er das Faszientraining mit seinem Namen nach Kräften. Auf der Website seiner Forschungsgruppe an der Universität verlinkt Schleip sogar auf seinen Webshop, in dem er sein Buch zu Faszien und entsprechendes Trainingszubehör verkauft. Seine Frau Divo Müller ist Mit-Geschäftsführerin der Fascial Fitness Asociation GmbH, die eine Ausbildung zum Faszientrainer anbietet. Robert Schleip ist dem Unternehmen verbunden - als wissenschaftlicher Berater. In seiner Doppelrolle als Erforscher der Faszien und ihr Vermarkter steckt Schleip in einem klaren Interesenkonflikt. Er versichert: "Alle Einnahmen fließen in meine Forschung, auch mein Privatvermögen." Selbst wenn es so ist, stellt sich die Frage: Wie neutral, wie kritisch kann man ein Thema erforschen, von dem man finanziell abhängig ist?

Mit dem Aufdruck "Dr. Robert Schleip" verleiht er dem Faszientraining ein scheinbar wissenschaftlich fundiertes Gütesiegel, das es in Wahrheit nicht verdient hat. Derzeit existieren keine Studien, die die Versprechen des Faszientrainings belegen. Lediglich zu einzelnen Elementen des Trainings gibt es Erkenntnisse, die allerdings teils widersprüchlich sind (siehe unten). Über die Faszien wird erst seit Kurzem geforscht. Vor zehn Jahren wirkte Robert Schleip maßgeblich daran mit, die Medizin für das so lange ignorierte Gewebe zu begeistern. Erste Ergebnisse lassen tatsächlich hoffen, dass man eines Tages anhand des Bindegewebes den Körper besser verstehen wird. Faszien sind sehr dynamisch und reagieren auf Dehnung und Bewegung. Sie haben viele Rezeptoren und Nerven, sind extrem schmerzempfindlich und verändern ihre Struktur, wenn man sich wenig bewegt. Forscher vermuten, dass dies zur Entstehung chronischer Schmerzen beitragen könnte: Bei Patienten mit chronischen Rücken- und Nackenschmerzen fanden sie verdickte Faszien. Mit Massagen und einer Laserbehandlung gelang es Antonio und Carla Stecco von der Universität Padua, die Fasziendicke zu verringern - was dazu führte, dass die Patienten auch weniger Schmerzen verspürten. Die bisherigen Hinweise reichen jedoch bei Weitem nicht als wissenschaftliche Grundlage aus, um gleich Trainingskurse und Gymnastikrollen zu verkaufen.

Schaut man noch genauer hin, verliert die Entdeckung weiter an Zauber, denn vieles kommt einem bekannt vor: Die Dehnübungen ähneln denen aus Yoga oder Pilates. Das schnelle Hüpftraining praktizieren Leistungsportler längst unter dem Namen "plyometrisches Training". Andere Elemente wie Seitbeugen muten eher wie Leibesübungen an, die man bisher auf antiquierten Schwarz-Weiß-Fotos gesehen hat. Tatsächlich sagt Robert Schleip selbst, "viele alte Gymnastikübungen aus Großmutters Zeiten" seien Teil des Trainings. Sein eigenes Fazit lautet: "Faszientraining ist nicht gesünder als etliche andere Bewegungstrainingsarten." In diesen Momenten spricht dann wohl der Wissenschaftler in ihm, nicht der Vermarkter.

Was sind Faszien?

Der Körper ist durchzogen von einem Netzwerk an elastischem Bindegewebe, auch Faszien genannt. Die bis zu drei Millimeter dicken Faszien umschließen Organe, Muskeln, Nerven, Knochen und Gelenke und verbinden so alle Bestandteile des Körpers miteinander. Lange wurde dieses Gewebe aus Zellen (Fibroblasten), Kollagenfasern und Wasser von Medizin und Wissenschaft als uninteressantes Hüllgewebe gesehen. Mittlerweile weiß man, dass in den Faszien viele Nerven und Rezeptoren liegen, sodass Forscher von einem Sinnesorgan sprechen - dem grösten des Körpers. Faszien können Schmerz auslösen sowie die Bewegung und Lage der Gliedmaßen registrieren. Das Training mit der Faszienrolle soll "Verklebungen" im Bindegewebe lösen und die Muskeln leistungsfähiger machen.

Stark, schön, schlank

Faszientraining soll die Leistung und das Wohlbefinden steigern und vor Verletzungen schützen. Manche Trainer versprechen zudem, dass es Cellulite bekämpft und schlank macht. Es gibt keine umfassenden Studien, die diese Aussagen belegen. Wie die einzelnen Elemente des Trainings wirken, ist aber zum Teil erforscht.

Dehnen

Zum "Soft Tissue Stretching" gehören langsame Dehnungen, wie die als "Cat Stretch" bezeichnete übung, bei der man mit gebeugten Knien die Arme lang macht und auf einem Hocker ablegt, während man den Rücken in die Länge zieht und mit leichten seitlichen Drehungen dehnt. Dies soll das Zusammenspiel von Faszien und Muskeln verbessern. Studien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen: Regelmäßiges, langfristiges Dehnen, wie beim Yoga über Wochen hinweg, steigert die muskuläre Leistungsfähigkeit. Dehnen vor dem Sport verringert sie jedoch. Ob Dehnen vor Verletzungen schützt, ist unklar.

Hüpfen

"Rebound Elasticity", das zweite Element des Faszientrainings, umfasst schnelle, federnde Hüpfübungen wie Seilspringen, geräuschloses Hinauf- und Hinabhüpfen auf Treppenstufen oder schnelles Auf- und Niederspringen an einer Kiste. Dies soll die Leistung und die Elastizität der Faszien stärken. Dieser Teil ähnelt dem plyometrischen Training, das Profisportler zur Steigerung der Schnelligkeit und Leistungsfähigkeit seit Jahrzehnten anwenden - insbesondere in Sportarten, bei denen es auf Sprungkraft ankommt. Der leistungssteigernde Effekt ist in zahlreichen Studien nachgewiesen.

Rollen

Zum Training gehört, verschiedene Körperpartien wie Rücken und Beine über eine feste Schaumstoffrolle zu rollen ("Fascial Release"). Das soll verklebte und verdickte Faszien geschmeidiger machen, den Flüssigkeitsaustausch des Bindegewebes verstärken und Schmerzen lindern. Eine Metaanalyse von 15 Studien belegte diese Versprechen nicht, sondern gab lediglich einen Hinweis darauf, dass das Training mit einer Faszienrolle den Körper beweglicher macht. Allerdings war die Probandenzahl in den Studien klein (unter 20 Teilnehmer), die Aussagekraft ist daher begrenzt.

Biegen

Das vierte Element sind wellenförmige Bewegungen der Wirbelsäule ("Fluid Refinement"). Es soll die Körperwahrnehmung verbessern, das Bindegewebe gleichmäßig "bewässern" und das Wasser im Körper umverteilen. Studien, die diese Behauptungen belegen, gibt es nicht.

erschienen in "Zeit", 7. Januar 2016